Schwarzbrotpakt

Sitze im Zug. Hasse Zugfahren. Warum ich dann in einem Zug sitze? Na weil ich kein Auto habe. Und heute ich Schwarzbrotpakt. In Innsbruck. In Tirol. In Österreich. In Europa. Auf der Welt! Drum sitze ich im Zug.

Meine Haare sind frisch gewaschen, ich trage Makeup und sogar Nagellack! Ich habe meine Paktgenossen, pardon, Paktgenossinen, gut zehn Jahre nicht mehr gesehen na und da will man sich ja bestmöglich zeigen. Ich sehe gut aus und rieche ebenso. Oder besser gesagt: Ich sah gut aus und roch auch mal so. Aktuell hat sich nämlich mein Oberteil unter den Achseln mit Schweiß vollgesogen was anhand der hässlichen Flecken auch weithin sichtbar ist. Auch von meiner gepuderten Stirn tropft es.

Fight or Flight, das ist hier die Frage

Mein Puls rast. Meine Pupillen sind vom Adrenalin geweitet. Aufs Klo muss ich auch nicht mehr. Klassische Symptome des Fight or Flight Syndroms wie der Adrenalinausstoß in der Medizin genannt wird. Denn Adrenalin schießt dann ein wenn es brenzlig wird. Wenn der Löwe der Antilope nachjagt. Oder ich dem Zug.

Dabei fing alles so harmonisch an…aufstehen, duschen, Zähne putzen, frühstücken, packen. Ein Blick auf die Uhr sagt: alle Zeit der Welt. So fahre ich gemütlich zum Bahnhof, den ich siebzehn Minuten vor Zugabfahrt erreiche und schlendere zur Anzeigentafel um zu eruieren von welchem Bahnsteig die Reise losgehen soll. Von gar keinem. Mein Zug ist nicht angeschrieben. Häh? Mit zusammengekniffenden Augen studiere ich nochmals den Bildschirm. Nein. Kein Zug nach Innsbruck. Und da dämmert es mir. Mein Mund wird trocken und mein Puls wild. Ich schaue auf mein Ticket und dort steht tatsächlich geschrieben:
Abfahrt 8:30 Uhr Wien Hauptbahnhof

Gute Nachricht: es ist erst 8:15 Uhr. Schlechte Nachricht: ich stehe am Wiener Westbahnhof…Ich renne los, nicht ohne zuvor dreimal lauthals Scheiße gebrüllt zu haben und damit meine umstehenden Mitmenschen zu einem ungehaltenen Kopfschütteln zu animieren. Bleibe nach ein paar Metern allerdings wieder stehen. Wohin soll ich denn verdammt nochmal rennen?!?

Scheiße, scheiße, scheiße!

Ich versuche zu denken. Geht nicht. Ich brülle noch einmal Scheiße. Und vorsichtshalber gleich noch einmal. Dann klappt es. Taxi! Genau! Die Bahnhöfe befinden sich nicht weit voneinander entfernt, das könnte also klappen.

Ich haste auf den nächsten Taxifahrer zu der frühstückend neben seinem Auto lehnt. Schon von weitem schreie ich: „Schnell!!! SCHNEEEEEELL!!! Ich muss schnellstmöglich zum Hauptbahnhof!!! Bitte!!! Mein Zug geht in fünfzehn Minuten!!!“

Mein Taxler beißt vor Schreck erstmal von seiner Semmel ab bevor er gemächlich den Kofferraumdeckel öffnet um mein Gepäck einzuladen. Ich werfe den Koffer auf den Rücksitz.

„Nichte auf die Rücksitze“, werde ich mit italienischem Akzent angemault. „Gehte kaputte, die Sitze“, mault er weiter.

Ich nehme den Koffer auf den Schoß.

„Bitte“ flehe ich ihn an. Seufzend macht er es sich auf seinem Sitz bequem. Kontrolliert alle Spiegel, schnallt sich an, kontrolliert ob der Gurt auch wirklich richtig sitzt und ich flippe aus. Ich fauche zitternd: „MEIN ZUG GEHT IN VIERZEHN MINUTEN!!!!! VIERZEHN!!!!! BIIIIIIIITTTTTTTTE FAHREN SIE JETZT UND SO SCHNELL WIE MÖGLICH!!!!!“

In aller Seelenruhe antwortet er mir: „Vierzehne Minuti? Fräulein, dann Sie könne noch gemutlick eine Café trinke! Schaffe wir leicht. Keine Stau jetzte.“

Und wir fahren endlich los. Zwei Ampeln später stehen wir im Stau.

„Scheiße“, sagt nun auch mein italienischer Fahrer, „wenne Stau, wir nix schaffen.“

„Scheiße“ bestätige ich die Situation. „Ich habe extra früh gebucht um ein günstiges Ticket zu ergattern“, erzähle ich ihm betrübt, „aber das gilt eben NUR auf diesen, einen Zug.“

Ich bekomme nur ein Schulterzucken als Antwort.

Während wir so im Stau rumstehen schaue ich auf meinem Smartphone (manchmal sind die Dinger gar nicht so blöde) was mich ein neues Ticket kosten würde. Scheiße denke ich als ich die Uhrzeit lese und den Preis sehe. In fünf Minuten sind wir niemals am Bahnhof und der Preis für eine neue Fahrkarte im dreistelligen Bereich. Der Zug ist weg. Seufz.

Aber dann: DIE Idee! Schnell sehe ich nach ob der verdammte Zug auch noch eine andere Haltestelle hat in Wien. „Oh ja!“ Jauchze ich auf. Mein Chauffeur guckt irritiert in den Rückspiegel. Vorsichtig frage ich ihn wie schnell wir beim Bahnhof Meidling sein könnten, denn da würde der Zug erst um 8:34 Uhr fahren…

„Iste näher als die Hauptbahnhofe“, sagt er freudig, „aber bin ich ganze linke Autospur und muss ich jetzte rechts abbiegen“, sagt er mit gerunzelter Stirn. „Aber mach ma scho!“ sagt er Augenzwinkernd.

Merke: stehst du am Westbahnhof und musst zum Hauptbahnhof, steig einfach in die U-6 und fahre nach Meidling – spart Geld, Zeit und Nerven

Blinker gesetzt, gehupt und schon schieben wir uns über die vier Fahrstreifen und biegen ab. Hier erwartet uns eine freie Straße und wir geben endlich Vollgas. Ganz nach dem Motto: es gibt nur ein Gas. Vollgas!

Ich hetze die letzten Schritte bis zum Bahnsteig und hechte in den Zug. Zwar atemlos und verschwitzt, aber ich bin drin! Nun kann ich mich fünf Stunden lang erholen. Und mich freuen. Schwarzbrotpakt ich komme! Helangår!

Schwarzbrotpakt – was isn des?

Die große Frage: Schwarzbrotpakt, was soll das denn sein?? Werd ich euch erzählen!

Wir schreiben das Jahr 1998. Ein Semester Wirtschaftswissenschaften liegt hinter mir. Lange genug um zu erkennen: Nö. Nix für mich. So lerne ich Latein um im Herbst mit Veterinärmedizin beginnen zu können. In Wien.

Aber nun ists erstmal Ende April und meine Lateinprüfung bestanden. Wochenende ists und all meine Freunde nach Hause gefahren. Hmmm. Wochenende, Prüfung bestanden, ich möchte feiern! So rufe ich Marie aus meinem Russischkurs (den hab ich nur so aus Spaß belegt) an, denn sie scheint nett zu sein. Und prima, sie hat auch Zeit und Lust mit mir zu feiern! Folglich treffen wir einander des Abends und ziehen um die Häuser. Wir haben es so lustig, dass wir uns gleich für den nächsten Abend wieder verabreden. Diesmal soll auch Lisa, Maries Wohnungskollegin und Freundin, mitkommen.

Wieder haben wir einen herrlich gelungenen Abend und als die Stimmung gegen drei Uhr morgens auf ihrem Höhepunkt ist fragen mich die beiden aufgeregt:

„Kiki, was machst du in den Sommerferien???“

„Hmmmm, tja, öööh, jooo, da hab ich nix vor…“ antworte ich betrübt.

„Jaaaaaaaaaaaa“ kreischen die beiden vergnügt.

Leicht irritiert blicke ich sie an.

Marie: „Ich mache in Frankreich ein Praktikum. Zwei Monate. Und Lisa wird mich besuchen…“

„…und DU KOMMST MIT!“ fällt ihr Lisa ins Wort.

„GENAU!“ bestätigt Marie.

Ich versuche meine Gehirnzellen zur aktiven Mitarbeit zu bewegen. Um was genau gehts hier grad? Ich soll mit meinen neuen…Freundinnen… Urlaub machen?

„Jaaaaaaaaa!!!!!!“ kreische nun auch ich.

Wir stoßen an und aufgeregt plappern und plappern und plappern wir über nichts anderes mehr.

Da aller guten Dinge drei sind verabreden wir uns für den kommenden Abend gleich nochmal!

À Bordeaux…

Was soll ich sagen, die Stimmung kocht abermals und wir verstehen uns blendend. Wir stoßen wieder und wieder „à Bordeaux“ an und üben uns schon mal darin mit französischen Akzent zu sprechen. Das gelingt uns so gut, dass wir als echte Französinnen gehalten werden. Pourqouis non? Warum nicht? Und so wird aus Lisa, Maria und Kiki kurzerhand und ohne lang zu überlegen: Nathalie, Veronique und Jacqueline. Wir haben eine Mordsgaudi!

Dann erzählt Nathalie, äääh, ich meine natürlich Lisa, von ihrem letzten Urlaub, den sie in London verbracht hatte.

„Boa, ich möcht auch mal nach London!“ sage ich neiderfüllt.

„Ja dann lass uns dorthin fliegen“, ruft sie begeistert, „gleich nach Frankreich!“

Ich schaue sie an ob sie noch alle Tassen im Schrank hat. Ich denke nicht. Find ich gut.

„Ich bin dabei!“ krähe ich und erhebe mein Glas. „Ein Toast auf unseren Urlaub…“

„…nein, nein, nein, das ist viel zu langweilig.“ mischt sie Marie nun ein.

„London ist doch nicht langweilig!“ protestiert Lisa.

„Ich meine ja auch nicht London sondern den Toast! Ein Toast auf ist doch sowas von abgedroschen…das passt doch gar nicht zu uns!“

„Da hast du Recht, Marie.“ Wir nicken zustimmend. „Aber was sollen wir denn stattdessen…“

„…ein Schwarzbrot! Ein Schwarzbrot auf uns!“ ruft Marie überschwenglich und wir stimmen mit ein:

„Ein Schwarzbrot auf uns! Ein Schwarzbrot à Bordeaux! Ein Schwarzbrot auf London!“

…und Helangår

Und wir grölen unseren Lieblingstrinkspruch:

Helan går
Sjung hopp faderallan lallan lej
Skål!

Wenngleich es bei uns eher so klingt:

Helangooooooor! Schunk! Hopp! Fadallllalllalllan llllallllan lllej, Skoooooooollllll!!!!

Und dann lachen wir uns schief. Und dann schlafen wir eine Nacht und einen Tag und eine Nacht. Und dann buchen wir unseren Trip im Reisebüro. Ja schon vergessen? Wir sind im Jahr 1998, da buchte man Reisen noch im Reisebüro!

Nach vielen weiteren heiteren Nächten und Tagen beginnt endlich unsere Reise. Wir erleben eine unvergessliche Woche in Bordeaux und eine in London mit jeder Menge Spaß und Fröhlichkeit sowie vielen Helangårs und Schwarzbroten. Und so schließen wir einen Pakt:

Der Pakt. Der Schwarzbrotpakt:

Der Schwarzbrotpakt:

Falls wir uns jemals aus den Augen verlieren sollten, treffen wir einander am 1. August 2016 (der Sommer in dem Marie und Lisa ihren vierzigsten Geburstag feiern) unter dem Goldenen Dachl in Innsbruck wieder! Und falls wir einander nicht aus den Augen verlieren sollten, dann einfach auch!

Heute ist der 13. Mai 2016. Und ich bin auf dem Weg zum Goldenen Dachl. Warum drei Monate zu früh? Ganz einfach, da ich im Juli auswandere werde ich am 1. August nicht mehr in Österreich sondern in California (USA) sein…

Ganz aufgeregt erreiche ich den Innsbrucker Hauptbahnhof. Ich erinnere mich noch genau daran wie ich vor neunzehn Jahren das erste Mal hier her kam: über der Schulter meine Reisetasche, den Stadtplan in der einen und mein Fahrrad in der anderen Hand suchte ich gespannt mein Studentenheim. Mami hielt mich wohl für alt genug das alleine meistern zu können und so tappte ich allein durch eine fremde Stadt in der ich niemanden kannte. Aber es war großartig! Ich weiß noch genau wie ich mich damals fühlte: gleichzeitig ängstlich (wie, was, wo, wann?) und selbstbewusst stolz diesen Schritt alleine, ohne Mami’s Hand zu meistern.

Wiedersehen unter dem Goldenen Dachl in Innsbruck, das ist in Tirol, das ist in Österreich, das ist in Europa, das ist…HALLO?! …auf der Welt!?!

Ja und heute stehe ich wieder am Innsbrucker Hauptbahnhof und bin gespannt (nur die Reisetasche habe ich gegen einen Samsonite-Trolley ausgetauscht und den Stadtplan gegen ein Smartphone). Ich stapfe los Richtung Goldenes Dachl und schwelge in Erinnerungen…zehn Jahre habe ich die Mädels nicht mehr gesehen. Zehn Jahre!

Das goldenen Dachl in Innsbruck
Goldenes Dachl

Und nun…schon von weiten sehe ich Lisa und Marie unter dem Goldenen Dachl stehen. Ich strahle, ich lache und schon laufe ich los und falle den beiden um den Hals.

 

Zehn Jahre nicht mehr gesehen aber davon spüren wir nichts. Ein paar Fältchen mehr zieren unsere leuchtenden Augen, sonst hat sich keiner von uns verändert denn die grauen Haare wurden vorsorglich gefärbt. Nur schwer kann ich die Tränen der Freude zurückhalten.

Wir bringen unser Gepäck ins Hotel um dann schnurstracks in unser ehemaliges Stammlokal einzufallen, das 11er Haus. Bei Burger und Bier erzählen wir einander was sich so in den letzten zehn Jahren ereignet hat. Ein wunderbarer Start für unser Revival-Wochenende. Die Kneipen von damals suchen wir ebenso auf wie unsere ehemaligen Wohnstätten und die Universität. Natürlich wird auch geshoppt! Nur halt jetzt Babygewand…Und natürlich gehen wir auch Essen. Nur halt nicht mehr zu McDonalds sondern schick zum Thailänder.

Es ist Samstag Abend. Besser gesagt: Samstag Nacht. Die Stimmung ist mal wieder ausgelassen heiter und beschwingt als Lisa es auf den Punkt bringt.

„Wir brauchen einen neuen Pakt!“ grinst sie.

„Ja klar! Supergenialgroßartighervorragendprimaklassespitzenmäßige Idee!“ rufen Marie und ich wie aus einem Mund.

„In zehn Jahren! Wieder unter dem Goldenen Dachl. Am 1. August 2026!“ gluckst Lisa vergnügt.

„Genial!“ kreische ich ausgelassen, „Lass uns anstoßen! Auf…auf…“

Auf was nur sollen wir anstoßen? Der Schwarzbrotpackt ist erfüllt…

„…Baguette-Pakt“ johlt Marie aufgekratzt, „ein Helangår auf den Baguette-Pakt!“

 

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